NICHT ALLE HOCHVERARBEITETEN LEBENSMITTEL SIND SCHäDLICH

Fertiggerichte haben einen schlechten Ruf. Und der Blick auf die Studienlage verdirbt tatsächlich den Appetit darauf. Denn Studien zeigen, dass die industriell produzierten und sehr stark verarbeiteten Lebensmittel in einem Zusammenhang mit vielen Krankheiten stehen: Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes Typ 2, Adipositas, Reizdarmsyndrom, um nur eine Auswahl zu nennen.

Doch den wenigsten gelingt es, auf Fertigessen zu verzichten. In der Schweiz nehmen die Menschen täglich fast ein Drittel ihrer Energie aus hochverarbeiteten Lebensmitteln zu sich, in Deutschland sind es rund 50 Prozent.

Aber sind weniger stark verarbeitete Lebensmittel tatsächlich zuverlässig die bessere Wahl? Machen wir einen Test: Stellen Sie sich vor, Sie können zwischen drei Optionen wählen, um ein möglichst gesundes Frühstück zu essen. Was würden Sie wählen: ein selbstgebackenes Croissant, ein Stück von Grossmutters Schokokuchen – oder das Haferflocken-Nuss-Müesli aus dem Supermarkt? Nur Letztgenanntes gilt als hochverarbeitet. Allerdings hat das Müesli im Vergleich mit den anderen beiden Optionen das bessere Nährstoffprofil.

Nun könnte man einwenden: Das Müesli ist doch gar nicht so besonders hochverarbeitet. Und überhaupt: Wieso geht es hier nicht um die wirklich problematischen ultraprozessierten Lebensmittel, um Junk-Food mit zu viel Zucker, Salz oder Fett und mit etlichen Zusatzstoffen?

Wer das denkt, ist mittendrin in einer komplexen Diskussion, in der es um drei zentrale Fragen geht: Was macht ein hochverarbeitetes Lebensmittel eigentlich aus? Sind überhaupt alle davon ungesund? Und liegt es wirklich am Grad der Verarbeitung oder doch eher an den Zutaten, wenn ein Lebensmittel der Gesundheit schadet?

1. Was macht ein hochverarbeitetes Lebensmittel aus?

Das derzeit wichtigste Hilfsmittel, um Lebensmittel nach dem Grad ihrer Verarbeitung zu gruppieren, heisst Nova-Score. Entwickelt wurde der Score von dem brasilianischen Ernährungswissenschafter Carlos Augusto Monteiro. Sein Ziel war es, den Zusammenhang zwischen dem Verarbeitungsgrad eines Lebensmittels und verschiedenen Erkrankungen aufzuzeigen. Seit einigen Jahren nutzen die meisten Forscher weltweit den Nova-Score, wenn sie die gesundheitlichen Auswirkungen hochverarbeiteter Lebensmittel untersuchen. Auf den ersten Blick wirkt die Tabelle gut sortiert und übersichtlich. Doch die Bewertungsskala ist umstritten.

Oft ist es schwer, zu sagen, in welche Gruppe ein Produkt tatsächlich gehört. Der Leitfaden zum Nova-Score bleibt unspezifisch. Denn die Kriterien für ein hochverarbeitetes Produkt sind schwammig formuliert und zielen nicht nur auf die Verarbeitungsschritte ab.

Dort heisst es, hochverarbeitete Lebensmittel enthielten Inhaltsstoffe, die zumeist nur in der industriellen Produktion genutzt würden und für deren Herstellung aufwendige industrielle Arbeitsschritte nötig seien. Zudem ist dort festgehalten, die Zutaten stammten oft aus Massentierhaltung. Häufig würden Zusatzstoffe beigemischt, um das Produkt besonders schmackhaft zu machen. Für gewöhnlich werde es attraktiv verpackt. Ein wichtiges Ziel der Hersteller sei es, hochprofitable Produkte zu erzeugen.

Die Beschreibung ist so vage, dass selbst Fachleute dieselben Lebensmittel unterschiedlichen Gruppen zuordnen. Es fehlt also eine genaue Definition, was ein hochverarbeitetes Produkt eigentlich ist.

Aber wie kann man hochprozessiertes Essen im Alltag so zuverlässig wie möglich erkennen? Philipp Schütz, Präsident der Eidgenössischen Ernährungskommission, empfiehlt: «Achten Sie darauf, ob ein Produkt Inhaltsstoffe enthält, die Sie selbst nicht nutzen würden, weil Sie sie gar nicht in Ihrer eigenen Küche haben. Das ist ein guter Hinweis darauf, dass es hochverarbeitet ist.»

Dazu zählen Fructose, Weizenprotein oder Fruchtsaftkonzentrat. Auch wenn Zusatzstoffe eingesetzt würden, die das Produkt schmackhafter oder ansprechender machen sollen, sei das ein Hinweis auf ein hochverarbeitetes Lebensmittel. Das seien etwa Geschmacksverstärker und Farbstoffe.

Letztlich bedeutet das: Eine Gemüsemischung aus dem Tiefkühlregal gehört laut Nova-Score auf jeden Fall in die als bedenklich geltende Gruppe 4, sobald sie auch nur einen Zusatzstoff enthält, etwa ein Verdickungsmittel.

2. Sind alle hochverarbeiteten Lebensmittel ungesund?

Wenn Forscher ganz allgemein hochverarbeitete Lebensmittel untersuchen, dann geht es um die unterschiedlichsten Produkte: Chips, Tiefkühlpizza, Softdrinks, Wurstwaren, aber auch Frühstücksflocken oder abgepacktes Brot, um nur eine Auswahl zu nennen. Heinz Freisling, Wissenschafter an der Internationalen Agentur für Krebsforschung in Lyon, sagt: «Man sollte in wissenschaftlichen Studien mehr auf die Untergruppen der hochverarbeiteten Lebensmittel schauen, um herauszufinden, welche davon wirklich ungesund sind.»

Genau das hat er gemeinsam mit anderen Forschern getan. Die Studie, die Ende 2023 erschien, ergab: Nicht alle hochverarbeiteten Produkte stehen in einem Zusammenhang mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Vor allem Softdrinks und Fleischprodukte scheinen schädlich zu sein.

Andere Untergruppen scheinen die Gesundheit sogar positiv zu beeinflussen – etwa hochverarbeitete Frühstückscerealien. «Das deckt sich mit anderen Studien, die ebenfalls Untergruppen hochverarbeiteter Lebensmittel betrachtet haben», sagt Martin Smollich, Professor am Institut für Ernährungsmedizin der Universität Lübeck, der an Freislings Studie nicht beteiligt war.

Smollich sagt: «Problematisch sind Lebensmittel vor allem dann, wenn sie zu viel Zucker, Salz und gesättigte Fettsäuren enthalten.» Das treffe zwar auf viele hochverarbeitete Produkte zu, aber eben nicht auf alle. Und er sagt: «Wir können nicht einfach alle hochverarbeiteten Produkte pauschal abwerten. Das geben die Daten doch überhaupt nicht her.»

3. Ist der Verarbeitungsgrad problematisch, oder schaden vor allem Zucker, Fett und Salz?

Um diese Frage zu beantworten, erklären Smollich und Freisling zunächst, weshalb Softdrinks und hochverarbeitetes Fleisch vermutlich einen schlechten Einfluss auf die Gesundheit haben.

Über gesüsste Getränke sagt Smollich: «Mit Softdrinks schütte ich ganz nebenbei viel grössere Mengen Zucker in mich hinein, als ich es beim Essen von Gebäck tun würde – und die Getränke sättigen nicht.» Auf diese Weise sei es sehr leicht möglich, einen Kalorienüberschuss aufzunehmen.

Dass hochprozessiertes Fleisch so schlecht abschneidet, begründet Freisling zum Beispiel damit, dass vielen Wurstwaren Pökelsalz zugesetzt ist. Das stehe im Verdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen. Aber er sagt auch: «Nicht nur hochverarbeitetes Fleisch ist problematisch. Vor allem rotes Fleisch, zum Beispiel Rindfleisch, ist im Übermass auch dann schädlich, wenn es nicht stark verarbeitet wurde. Das liegt etwa an den gesättigten Fettsäuren und am Häm-Eisen, das sie enthalten.»

Manche Wissenschafter vermuten darüber hinaus, hochverarbeitete Lebensmittel schadeten der Gesundheit deshalb, weil die Hersteller mithilfe von Zusatzstoffen extrem schmackhafte und geradezu süchtig machende Produkte kreieren. Der Mensch esse deshalb zu viel davon, werde dick und bekomme in der Folge zum Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes Typ 2. Auch manche Zusatzstoffe wie Emulgatoren stehen im Verdacht, die Gesundheit zu schädigen.

Was heisst das nun? Liegen die negativen Auswirkungen gewisser hochverarbeiteter Lebensmittel an Zutaten wie Salz, Zucker und Fett, die im Übermass problematisch sind? Oder ist doch der Grad der Verarbeitung verantwortlich? Die Datenlage ist noch nicht eindeutig genug. Die Schweizer und die deutsche Gesellschaft für Ernährung warnen deshalb derzeit nicht explizit vor ultraprozessierten Gerichten. Philipp Schütz von der Eidgenössischen Ernährungskommission sagt dazu: «Es braucht wirklich mehr und bessere Forschung, um klare Empfehlungen aussprechen zu können.»

Und Martin Smollich sagt: «Ich halte es beim aktuellen Stand des Wissens für eine sehr elitäre Sichtweise, den Menschen zu suggerieren, sie sollen vollständig auf hochprozessierte Lebensmittel verzichten. Es gibt viele Leute, die gar nicht die Zeit haben, täglich frisch zu kochen.» Indem man alle hochverarbeiteten Lebensmittel undifferenziert als ungesund darstelle, sorge man vor allem dafür, dass sich viele Menschen aufgrund ihrer Ernährungsweise schlecht fühlten.

Das Ziel: ein abwechslungsreicher Speiseplan

Für den Alltag bedeutet das: Niemand muss sich Fertiggerichte radikal verbieten. Aber es lohnt sich, den gesunden Menschenverstand einzuschalten. Je weiter vorne auf der Zutatenliste Zucker, Salz und Fett stehen, desto schlechter. Insgesamt gilt: Je weniger Zusatzstoffe, desto besser ist das Produkt wahrscheinlich für die Gesundheit.

Wer ab und zu selbst kocht, da sind sich die Fachleute einig, wird dabei instinktiv weniger Zucker, Salz und Fett verwenden, als in vielen hochprozessierten Lebensmitteln vorhanden ist. Und Philipp Schütz sagt: «Vermutlich werden Sie auch automatisch hochwertigere Zutaten nutzen. Denn zu Hause fehlen Ihnen die Aromen und Geschmacksverstärker der Industrie. Sie können den Geschmack dann nur durch die Wahl der Zutaten beeinflussen.»

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