EXPERTIN: ME/CFS KEINE PSYCHISCHE STöRUNG, AUSBILDUNG NöTIG

Die US-Expertin für Erkrankungen des autonomen Nervensystems Svetlana Blitshteyn sieht bei ME/CFS und Long Covid einen großen Aufholbedarf bei der ärztlichen Aus- und Fortbildung sowie der Forschungsförderung: "Jetzt ist die Zeit gekommen", sagte die in Buffalo (USA) tätige Neurologie-Professorin im Interview mit der APA. Es handle sich um physiologische (körperliche) Erkrankungen und diese dürften "nicht als psychiatrische Störungen eingestuft werden".

"Es ist sehr wichtig, dass wir die Menschen zunächst richtig diagnostizieren", so Blitshteyn, die auch als außerordentliche Professorin für Neurologie an der Jacobs School of Medicine and Biomedical Sciences in Buffalo tätig ist. Das von der Weltgesundheitsorganisation seit 1969 als neurologische Erkrankung klassifizierte ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronische Fatigue Syndrom) sei "keine psychiatrische Erkrankung, sondern ein physiologisches Syndrom", sagte sie. Als eines der maßgeblichen Symptome von ME/CFS, aber auch Long Covid, sei die autonome Dysfunktion zu beachten, die leicht zu diagnostizieren und auch symptomatisch zu behandeln sei, betonte die Expertin. Die Störung betrifft das autonome Nervensystem, das die unwillkürlichen Körperfunktionen steuert (etwa den Pulsschlag und den Blutdruck).

Die auch in Österreich geführte Debatte darüber, wonach es für ME/CFS keine Biomarker gebe, die die Krankheit klar diagnostizierbar machen würde, wies Blitshteyn zurück: "Es gibt Tests, die erhebliche Auffälligkeiten zwischen ME/CFS-Patienten und gesunden Menschen zeigen", insbesondere was autonome Dysfunktion betrifft. "Um eine autonome Störung zu erkennen, sollte man mit der Durchführung eines zehnminütigen Stehtests (Schellong-Test, Anm.) beginnen." Dazu bedürfe es keines besonders ausgestatteten autonomen Test-Labors. Auch verwies sie darauf, dass rund 70 Prozent der Long Covid-Patienten eine autonome Dysfunktion aufweisen würden.

Hierfür bestehende Behandlungsoptionen seien symptomatisch, da sie nicht an den Ursachen ansetzen. Einige der zugrunde liegenden Ursachen scheinen "immunologischer, entzündlicher und mitochondrialer" Natur zu sein, sagte Blitshteyn. "Aber eine symptomatische Behandlung ist besser als nichts, und sie ist sicherlich besser als eine Psychotherapie oder andere alternative Therapien, die Menschen auch nutzen wollen." Gleichzeitig verwies Blitshteyn darauf, dass es auch viele Betroffene gebe, die einen normalen Stehtest vorweisen, aber dennoch an Dysautonomie leiden. Hier bedürfe es weiterer Tests, die es schon gibt oder gerade in Entwicklung sind, die aber leichter zugänglich sein müssten. Als Beispiel verwies die Expertin u.a. auf die transkranielle Dopplersonografie zur Messung der Hirndurchblutung in liegender und stehender Position oder auch kardiopulmonale Tests.

"Meiner Meinung nach liegt der Schlüssel zur Verbesserung der Patientenversorgung in der Verbesserung und Modernisierung der Diagnosemöglichkeiten", sagte Blitshteyn, die in Buffalo (New York) auch eine eigene Klinik ("Dysautonomia Clinic") leitet, im APA-Interview. Ebenso wichtig sei die Entwicklung neuartiger Therapeutika sowie der Einsatz bestehender für neue Zwecke - "und die Umsetzung medizinischer Schulungen für Ärzte und Assistenzärzte bei autonomen Störungen". Sie sieht einen großen Änderungsbedarf in der Lehre: Alte Gewohnheiten seien nur "schwer abzulegen". "Viele Dinge, die man in den Lehrbüchern lernt, die Jahrzehnte zuvor geschrieben wurden, oder in Lehrbüchern, die jetzt geschrieben werden und auf Erkenntnissen basieren, die vor 50 Jahren entstanden sind, sind überholt. Das ist nicht der richtige Weg."

All jenen Ärzten, die meinen, ME/CFS sei eine Somatisierungsstörung, eine psychische Störung, oder dass ME/CFS "Angst", "Depression" oder "De-Konditionierung" sei, sage sie: "Das ist wissenschaftlich falsch." Es handle sich um eine Störung, die das Gehirn und das Zentralnervensystem betreffe, das Herz-Kreislauf-System, die Mitochondrien oder das Immunsystem. Blitshteyn verwies unter anderem auf eine aktuelle Studie der US-Gesundheitsbehörde National Institutes of Health (NIH). In der Fachzeitschrift Neurology Today betonte Blitstheyn dazu, die Daten würden zeigen, dass ME/CFS eindeutig eine Störung des zentralen Nervensystems sei, "und die damit verbundene Fatique wird durch eine autonome Dysfunktion definiert, die nichts mit psychologischen oder psychiatrischen Ursachen zu tun hat".

Zu den von Neurologinnen und Neurologen oftmals hervorgehobenen psychischen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) oder der oftmaligen Fehldeutung von ME/CFS oder Long Covid als psychische oder psychiatrische Erkrankung sagte Blitshteyn, dass einige der Betroffenen möglicherweise psychiatrische Komorbiditäten entwickeln. Allerdings handle es sich hierbei bei vielen Patienten um einen "sekundären Prozess" und dies sei nicht die Ursache für ME/CFS: "Wir haben es nicht mit einem psychiatrischen oder psychologischen Problem zu tun. Der zugrunde liegende Mechanismus wurzelt nicht in einer psychiatrischen Erkrankung, im Denkprozess oder in einer charakterlichen 'Schwäche' der Betroffenen - oder in einem Mangel an positivem Denken", betonte Blitstheyn.

Als Beispiel brachte die Expertin eine kürzlich veröffentlichte Fallserie von Patienten mit Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), das im Rahmen von Long Covid oder ME/CFS auftreten kann: "Wir hatten Patienten mit MCAS, die erhebliche psychiatrische Komorbiditäten hatten", wie Angstzustände, Depressionen, bipolare Störungen und sogar Selbstmordtendenzen. Mit der Behandlung des dahinterstehenden Mastzellaktivitätssyndroms habe aber eine starke Besserung der psychiatrischen Symptome eingesetzt, "bei einigen Patienten lösten sie sich komplett auf". Es gehe darum, das zugrunde liegende Problem zu lösen. Man könne Patientinnen und Patienten mit systemischen Erkrankungen und daraus resultierenden psychiatrischen Symptomen nicht sagen, dass es ihnen besser geht, wenn man nur ihr psychiatrisches Problem behandelt, ohne ihre systemische Erkrankung anzugehen.

Die Tatsache, dass die Krankheiten von Klinikern oft falsch eingeordnet werden, sei auf die fehlende oder falsche medizinische Ausbildung zu komplexen chronischen Erkrankungen zurückzuführen. Typischerweise gebe es im medizinischen Lehrplan keine Kurse zu ME/CFS, keine Kurse zu autonomen Dysfunktionen oder Krankheiten wie dem Mastzellaktivierungssyndrom oder zu Störungen des Hypermobilitätsspektrums (Ehlers-Danlos-Syndrom). Vielmehr werde den Studenten oft beigebracht, dass sie - wenn sie komplexe Patienten mit "Hunderten von Symptomen" sehen, die über "alles" und über "Funktionsunfähigkeit" klagen würden - über "psychische oder psychiatrische" Probleme dieser Patienten nachdenken müssen. "Wenn diese Patienten ME/CFS haben, dann ist diese Art des diagnostischen Denkens falsch und völlig unangemessen."

Man müsse bei der Ausbildung "bei Null" anfangen. Dieser Paradigmenwechsel werde aber kein einfacher: "Ich vermute, vor allem in Österreich, wo psychodynamische Theorien populär sind und Freud so verehrt wird, könnte es schwierig sein, diese Denkweise in Bezug auf ME/CFS zu ändern", erinnerte sie an den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud. "Ich glaube, dass wir nicht an überholten Vorstellungen festhalten sollten, dass sich die Medizin als Wissenschaft und bei der Patientenversorgung schnell verändert und dass wir Medizin nicht mehr auf die Art und Weise praktizieren können, wie wir es vor 100 Jahren getan haben", fordert sie Neuorientierung ein. "Viele Millionen Patienten mit ME/CFS wurden wahrscheinlich falsch diagnostiziert, misshandelt, vernachlässigt und ausgegrenzt."

Als Beispiel für ähnliche Irrwege in der Medizin nannte sie die Geschichte der Multiplen Sklerose: "Vor vielen Jahren wurde bei Multiple-Sklerose-Patienten in ähnlicher Weise fälschlicherweise Hysterie und Angst diagnostiziert. Die meisten von ihnen waren Frauen. Jetzt wissen wir, dass MS eine neurologische Erkrankung ist, die das Zentralnervensystem betrifft. Ebenso sind Dysautonomie und ME/CFS neurologische Störungen." Man wisse, dass Bewegungstherapie und Psychotherapie nicht die Standardbehandlungen für Patienten mit Multipler Sklerose sind. "Ebenso sollten diese nicht die Standardbehandlungen für Patienten mit ME/CFS sein."

Der "Weg nach vorne" bestehe nun darin, neue Erkenntnisse zu verfolgen. Dazu brauche es neue Studien, eine Menge Forschungsförderung und "viele Menschen, die aufgeschlossen sind". "Gerade jetzt, da die Coronavirus-Krise anhält, wissen wir, dass Millionen von Menschen von Long Covid betroffen sind, und wir wissen, dass es jeden treffen kann: Politiker, deren Familien und deren Freunde." Dadurch, dass es viele Betroffene gibt, werde vermehrt auf Innovation und auf Behandlungsoptionen gedrängt.

Wichtig sei aber, dass die Mittel auch richtig eingesetzt werden. Denn wenn Entscheidungsträger, die für die Verwendung von bereitgestellten Mittel verantwortlich sind, nicht in diesen Störungsbildern geschult sind, dann bekomme man nur "more of the same" - nämlich weitere Studien über sportliches Training, über Psychotherapie und Behandlung von Angstzustände, so Blitshteyn.

"Ich denke, dass Long Covid nun die Richtung der Wissenschaft verändern wird", sagte die Expertin, die "sehr viel öffentlichen Druck" für Forschung ortet. Diese Entwicklung werde das Fachgebiet der Neurologie und der autonomen Störungen voranbringen. "Das ist großartig, wir warten seit Jahrzehnten auf neue Therapien und hoffen, dass wir sie bald haben werden."

Als wichtig erachtet die Expertin auch eine breite Aufklärung der Gesellschaft über post-akute Infektionssyndrome wie etwa Long Covid und ME/CFS. "Je mehr Medien und je mehr Leute in der Politik sich für diese Anliegen engagieren, desto besser". Auch verwies sie auf die hohen wirtschaftlichen Verluste, die Long Covid durch den Verlust von Arbeitskräften und Gesundheitsausgaben für chronisch kranke Menschen mit sich bringe.

2024-05-05T03:40:10Z dg43tfdfdgfd